Marsch der Hirsche

Ist das ein langweiliger Winter – früher hatten wir noch Schnee, so hoch wie die Berge! Da mussten wir einen Pfad durch den tiefen Schnee treten. Aus dem Wald in gerader Linie zum nächsten Stall. Mmmm, schmeckte das Heu gut! Aber heute – nichts! Nur Silo-Geruch. Keine süssen Geschenke. Wir müssen uns selbst bedienen! Auch der Frühling ist nicht alles – kalt und … ja, man weiss nicht so recht, was das Wetter eigentlich will. Ist der Frühling nun da oder wartet er um die Ecke? So halten sich auch die Gräser und die Knospen zurück. Und die Leidtragenden sind wir. Unsere Leibspeisen bleiben aus. Hunger macht sich breit.

So, meine Lieben, alle mal herhören: Diese Verweigerung der Natur – kein Schnee, kein Heu – kein Frühling, kein Gras – ist uns zu lästig. Wir nehmen das Heft selber in die Hand, das heisst: das Gemüse zwischen die Zähne, das Efeu auf die Zunge, das Vogelfutter in den Gaumen. Ich kenne ein paar gute Plätze. Sobald es richtig dunkel ist – das heisst, so dunkel wie früher wird es auch nicht mehr: an jeder Ecke brennen Strassenlampen, spät noch brennt da und dort ein Licht oder ist ein ganzes Haus taghell beleuchtet. Auch rasen viele des Nachts mit vollen Scheinwerfern durch die Strassen – aber trotzdem, so um halb eins marschieren wir los. Wir besammeln uns beim Schang-Chnobels-Seeli. Jeder und jede nimmt vor dem Abmarsch noch einen richtigen Schluck vom frischen Wasser, so dass uns wenigstens der Durst nicht plagt. Es reicht am Hunger. Sind noch Fragen? – Dürfen wir Frauen auch mitkommen? Selbstverständlich, das ganze Harem kommt mit. – Wer schaut auf die Jungböcke, man weiss ja nie, was diesen einfällt! – Das macht Max! – Überqueren wir auch Strassen? Nach hirschlichem Ermessen: nein! – Noch etwas? – Also, um halb eins, verpflegt, ich meine, Durst gelöscht!

Was sticht mir denn da in die Nase? Oi oi oi, Beeren, Erdnüsse, Haferflocken, Kernenöl, Schmalz. Mmmm, das muss ich mal probieren. Lustig, diese bunten Häuschen, blau, rot, gelb, grün und krumm und schräg. Und erst noch auf Kopfhöhe. Da müssen wir uns weder bücken noch strecken. Mit der Zunge schön bequem hineinfahren und einsaugen, nicht kauen, einfach zergehen lassen. Mmmm, ist das eine Delikatesse!

Schaut her, so etwas habe ich noch nie gesehen. Wie geht das jetzt? Dieser Garten wächst ja in den Himmel! Muss man da hochklettern oder hochspringen? Sich zwischendurch zwängen geht nicht, ist mir zu eng. – Was haben die denn da gebaut? – Okay, ich springe auf dieses Mäuerchen. Dort stehe ich etwa auf gleicher Höhe. Noch einen grossen Schritt und schon bin ich drüben, mitten drin. – Was gibt es hier Gutes? Rosenkohl! Schon lange nicht mehr gegessen. Uh, ist der aber frisch. War den ganzen Winter unter dem Schnee. Hat ihm wohl gut getan. He, ihr Frauen, schaut mal her, bin ich nicht ein grosser Artist? So hoch oben! Und auf drei Beinen! Es wird mir fast schwindlig! – Wie komme ich da wieder raus? Ein Sprung auf den Kiesboden und ein zweiter über den Zaun. Das ist ja ein richtiger Hindernis-Lauf!

Was ist denn da drüben wieder los? Müsst ihr euch immer streiten? Seid nicht so laut, sonst erwachen noch die Nachbarn. Ich habe sowieso das Gefühl wir würden beobachtet. Von dort und von dort. Jetzt geht noch das Aussenlicht an! Weg von hier! In den Lichtschatten. Gut, dass wir Neumond haben oder so ungefähr. – Diese beiden Jungen machen ja einen fürchterlichen Krach! Was ist mit ihnen los? Immer wieder die Geweihe kreuzen und die Köpfe zusammen schlagen! Ach, ich kann kaum zusehen. Liebe Frauen, passt gut auf eure Mädels auf!

So, das war jetzt ein schöner Ausflug. Bauch voll und zufrieden. Jetzt legen wir uns hin, jeder an seinem und jede an ihrem Ort. Macht es euch bequem. Denkt daran: Morgen um die gleiche Zeit beim Schang-Chnobels-Seeli, Durst gelöscht! – Schlaft gut! – Max, du hältst Wache!